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Pendeln zu Stosszeiten und auf stark befahrenen Strecken könnte teurer werden. Politiker kritisieren die Pläne für ein ÖV-Mobility-Pricing, ein Experte zweifelt dessen Nutzen an.
«Nur noch Banker könnten um 17 Uhr heim»
Pendeln zu Stosszeiten und auf stark befahrenen Strecken könnte teurer werden. Politiker kritisieren die Pläne für ein ÖV-Mobility-Pricing, ein Experte zweifelt dessen Nutzen an.
Schlechte Nachrichten für Pendler, die regelmässig zu Stosszeiten unterwegs sind: Für sie könnte
das Zugfahren künftig teurer sein als für Passagiere, die vorwiegend tagsüber unterwegs sind. Das Departement von Bundesrätin Doris Leuthard arbeitet laut «Basler Zeitung» an einem Konzeptbericht zu Mobility Pricing - für Autofahrer genauso wie
für ÖV-Benutzer. Ziel: eine bessere Verteilung des Verkehrsaufkommens über den Tag. Es sei davon auszugehen, dass ÖV-Nutzer, die häufig unterwegs sind, künftig deutlich tiefer in die
Tasche greifen müssen als die heutigen GA-Besitzer, heisst es im Artikel. Insgesamt solle für Mobilität aber nicht mehr, sondern anders bezahlt werden.
Rolf Steinegger, Experte für Verkehrssysteme an der ZHAW, zweifelt den Nutzen eines solchen Systems
an. «Wenn sich die Passagiere etwas besser über den Tag verteilen, führt das höchstens dazu, dass die Infrastruktur etwas langsamer ausgebaut werden muss.» Wolle man die Gesamtmenge an
Verkehr reduzieren oder dessen Wachstum bremsen, müsse man die Mobilität hingegen für alle verteuern und damit verursachergerechter bezahlen, so Steinegger.
Benachteiligung von ÖV wäre kontraproduktiv
«Zu Stosszeiten zu pendeln, ist heute schon unattraktiver als tagsüber», sagt der Experte. Dass
Züge und Strassen am Morgen und am Abend trotzdem proppenvoll sind, liege daran, dass es sich viele Leute eben nicht anders einrichten könnten oder wollten. Würden die Zugtickets nun
verteuert, führe dies nur zu sozialen Ungerechtigkeiten. «Überspitzt gesagt: Der Banker vom Paradeplatz könnte noch abends um 17 Uhr mit dem Zug nach Hause, seine Putzfrau hingegen müsste
warten, bis es wieder günstige Verbindungen gibt.» Besonders problematisch wäre es ihm zufolge, wenn der ÖV aufgrund des Mobility Pricing stärker an Attraktivität verlöre als die Strasse:
«Auf der Schiene können auf weniger Fläche mehr Menschen transportiert werden als auf der Strasse - und dies erst noch mit weniger schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt.»
In dieselbe Kerbe schlägt Regula Rytz, Co-Präsidentin der Grünen und Mitglied der nationalrätlichen Verkehrskommission:
«Bei den Preisen im Bahnverkehr ist die Schmerzgrenze bereits erreicht - der ÖV darf nicht grundsätzlich verteuert werden.» Rytz fordert, beim Mobility Pricing müsse der Autoverkehr im
Vordergrund stehen - das System müsse zum Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr motivieren. Eine bessere Auslastung der Züge zu Randzeiten sei zwar sinnvoll. «Dann muss man diese Fahrten
aber günstiger anbieten - und nicht jene zu Stosszeiten teurer.» Komplett abzulehnen sei eine Verteuerung von stark befahrenen Strecken. «Wir können die Leute nicht dafür bestrafen, wenn
sie beispielsweise im Raum Zürich wohnen oder arbeiten.»
«Home Office fördern»
Auch für Evi Allemann, SP-Nationalrätin und Präsidentin des Verkehr-Clubs der Schweiz VCS, darf Mobility Pricing nicht dazu führen, dass Pendler bestraft werden. Trotzdem führe kein
Weg an der Einführung eines solchen verbrauchsabhängigen Preissystems vorbei: «Unser Verkehrssystem stösst an seine Grenzen. Damit die bestehende Infrastruktur besser ausgelastet werden
kann, müssen wir die Preise verbrauchsabhängiger gestalten.»
Dies könne allerdings erst dann gelingen, wenn gewisse Voraussetzungen gegeben seien. «Ziel muss es
sein, dass nicht mehr so viele Leute aufs Pendeln angewiesen sind.» Modelle wie Home Office müssten von den Arbeitgebern gefördert werden. «Zudem muss mehr günstiger Wohnraum in den
Städten angeboten werden, damit die Leute keine weiten Wege zwischen Wohn- und Arbeitsort zurücklegen müssen.»
Genau davon will SVP-Verkehrspolitiker Walter Wobmann nichts wissen. Die Anreize dürften nicht so gesetzt werden, dass sich die
Leute dazu gezwungen fühlten, in die Stadt zu ziehen: «Eine Verteuerung der stark befahrenen Pendlerstrecken käme dem Tod der ländlichen Wohngebiete gleich», befürchtet er. Dies
insbesondere, nachdem bereits der Pendlerabzug bei den Steuern beschränkt wurde. «Diese Idee kommt von realitätsfremden Fantasten, die nur noch vier, fünf grosse Zentren in der Schweiz
wollen.»
Tagsüber nur jeder fünfte Sitz besetzt
Bei der SBB heisst es auf Anfrage, man sehe im Mobility Pricing eine Chance, die Nachfrage besser
zu steuern. Heute sei im Regionalverkehr durchschnittlich jeder fünfte Sitz besetzt, im Fernverkehr jeder dritte. «Nur am Morgen und Abend während der Hauptverkehrszeit kann es sein, dass
die Auslastung über 100 Prozent beträgt, dass man also keinen Sitzplatz mehr findet.» Ziel müsse es deshalb sein, die Verteilung über den Tag zu verbessern.
Für die SBB sei dabei zentral, dass Strasse und Schiene bei der Einführung von Mobility Pricing
gleich lange Spiesse hätten. «Ausserdem muss der ÖV zahlbar und einfach in der Anwendung bleiben.» Dies betonte auch Bundesrätin Leuthard anlässlich des dritten Infrastrukturtags an der
Universität St. Gallen. An der Tagung wurden verschiedene Mobility-Pricing-Modelle
vorgestellt und diskutiert. Laut Leuthard zeigen die bisherigen Abklärungen, dass verschiedene
Modelle für die Schweiz grundsätzlich praktikabel wären. Allerdings stellten sich noch zahlreiche «technische, finanzielle und politische Fragen». Nächstes Jahr wird der Konzeptbericht
zum Thema dem Bundesrat vorgelegt.